82 Prozent aller Kfz-Werkstätten in der EU sind nicht markengebunden, und 62 Prozent des Marktvolumens von Ersatzteilen und Komponenten werden im unabhängigen Aftermarket vertrieben. Der Unabhängige Mehrmarken Kfz-Aftermarket (Independent Aftermarket, kurz IAM) ist laut einer Studie von Roland Berger und dem Branchenverband FIGIEFA ein wichtiger Partner für Hersteller, Zulieferer, aber auch Flottenbetreiber – auch mit Blick auf die E-Fahrzeug-Zukunft.
Ersatzteilgroßhändler beziehen demnach im Schnitt mehr als drei Viertel ihrer Teile von Tier-1-Original-Zulieferern und unabhängigen Herstellern von Markenersatzteilen. Mit im Mittel mehr als drei täglichen Lieferungen versorgen sie die freien (aber auch authorisierten) Werkstätten, die wiederum mit ihrem dichten Netz für schnelle Reparaturen und kurze Wege für die Kunden sorgen – ein wichtiger Faktor vor allem für gewerbliche Fahrzeug- beziehungsweise Flottenbetreiber. Im Zuge der zunehmenden Elektrifizierung von Pkw und Lkw nehme die Bedeutung des IAM noch weiter zu, auch für die Fahrzeughersteller, so die Studienautoren.
„Wenn von der Automobilindustrie die Rede ist, stehen meist die Produktion und der Verkauf von Neufahrzeugen im Fokus“, sagt Sylvia Gotzen, Geschäftsführerin des internationalen Verbands der unabhängigen Kfz-Ersatzteilgroßhändler FIGIEFA. „Dabei ist der Kfz-Ersatzteil-, Wartungs- und Reparaturmarkt ein zentraler Bestandteil der Branche sowie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der EU. Das zeigt schon die Tatsache, dass jedes Fahrzeug im Laufe seines Lebens im Schnitt mehr als 15.000 Euro Kosten für Wartung und Reparaturen verursacht – plus Arbeitskosten. Davon werden 62 Prozent oder 73 Milliarden Euro pro Jahr im IAM erwirtschaftet, der zudem mit seinen gut 280.000 Werkstätten und Teilehändlern rund 1,1 Millionen Arbeitsplätze bietet, mehr als doppelt so viele wie das Service- und Reparaturnetzwerk der Automobilhersteller.“
Die Berater von Roland Berger haben dies zum Anlass genommen, gemeinsam mit der FIGIEFA die komplexe Wertschöpfungskette des europäischen IAM zu analysieren. Eine in diesem Zuge durchgeführte Umfrage unter rund 380 Ersatzteilgroßhändlern, die Mitglieder der FIGIEFA sind, sowie 25 Experteninterviews mit CEOs von unabhängigen Teilegroßhändlern und Aftermarket-Zulieferern zeigen, dass wichtige Trends wie Fahrzeugkonnektivität und -technologie, Datenzugang und neue Marktteilnehmer aus China im Fokus stehen.
Ferner zeigt die Erhebung, dass insbesondere der Preisdruck, Lieferkettenrisiken sowie der Anstieg der Kosten für Komponenten als aktuelle Herausforderungen angesehen werden. Daher arbeitet die Branche intensiv daran, die Effizienz weiter zu verbessern, etwa durch digitale Geschäftsmodelle, Verbesserungen der Inbound- oder Outbound-Logistik sowie die Optimierung von Prozessen und Lieferkette.
IAM sorgt für 230 Mio. zusätzliche Betriebsstunden bei Nutzfahrzeugen
Die auf diese Weise erreichten Effizienzsteigerungen senken nicht nur die Kosten der Werkstätten und Teilehändler, sondern schaffen vor allem für gewerbliche Kunden auch wirtschaftliche Vorteile: Durch vorausschauende Wartung oder 24-Stunden-Serviceangebote lassen sich geplante Fahrzeugstillstände für nötige Reparaturen oder Wartungen nutzen. Nach den Berechnungen der Roland Berger-Experten steigt so die Betriebszeit der Fahrzeuge um fast zehn Stunden pro Fahrzeug und Jahr. Damit kann die europäische Nutzfahrzeugflotte insgesamt 230 Millionen Betriebsstunden zusätzlich nutzen. Ohne den IAM bräuchte Europa 110.000 zusätzliche Fahrzeuge, um die gleiche Logistik- und Transportleistung zu gewährleisten. Das entspräche zusätzlichen Kosten in Höhe von rund 16 Milliarden Euro.
„Unsere Studie zeigt, dass die Bedeutung des Kfz-Ersatzteilmarkts im Allgemeinen und des unabhängigen Kfz-Aftermarket im Besonderen keinesfalls unterschätzt werden darf“, sagt Daniel Rohrhirsch, Partner bei Roland Berger. „Das gilt angesichts der zunehmenden Elektrifizierung der Fahrzeugflotte auch für die Fahrzeughersteller, denn sie brauchen den unabhängigen Kfz-Aftermarket, um eine effiziente langfristige und werterhaltende Reparaturfähigkeit der Elektrofahrzeuge zu sichern und so die Kundenakzeptanz zu erhöhen.“
„Kooperation aller Beteiligten sorgt für Win-Win-Win-Win-Lösungen“
Damit das komplexe Ökosystem des Aftermarkets mit seiner Vielzahl an Akteuren zukunftsfest wird, empfehlen die Studienautoren eine enge Zusammenarbeit der Beteiligten, mit jeweils unterschiedlichem strategischen Fokus: Fahrzeug- und Teilehersteller sollten den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs betrachten, von der Konstruktion der Erstausrüstungskomponenten und -systeme bis hin zu den vom Ersatzteilmarkt angebotenen Reparatur- und Wiederverwendungslösungen.
Großhändler im IAM sollten zum einen ihre Dienstleistungen weiter ausbauen und gleichzeitig die Kosten optimieren; zum anderen sollten sie die Werkstätten mit vielfältigen Serviceleistungen weiter dabei unterstützen, sich auf ihr Kerngeschäft der Wartung und Reparatur von Fahrzeugen zu konzentrieren. Die Werkstätten wiederum müssen Herausforderungen wie den Arbeitskräftemangel und den Generationswechsel bewältigen und sollten gleichzeitig offen sein für Innovationen wie den Einsatz softwaregesteuerter Lösungen und neuester Diagnosetechnik.
„Ziel muss es sein, gemeinsam ‚Win-Win-Win-Win‘-Lösungen zu entwickeln, von denen Fahrzeug- und Teilehersteller, Händler, Werkstätten und Kunden gleichermaßen profitieren“, so Rohrhirsch.
„Die Studie hat gezeigt, dass der Kfz-Aftermarket ein wichtiger Teil der gesamten Automobilindustrie ist“, resümiert Gotzen. „Daher wäre es mit Blick auf die Absicht der EU, die Wettbewerbsfähigkeit von Schlüsselindustrien im Binnenmarkt und angesichts des zunehmenden globalen Wettbewerbs logisch, dem Aftermarket als ‚Vehicle Lifecycle Management Industry‘ bei der Erhaltung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit eine entscheidende Rolle beizumessen.“
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