Das chinesische Elektroauto-Startup NIO kommt nach Europa. Das Unternehmen startet zunächst im kleinen, dafür sehr E-Auto-affinen Norwegen, für das nächste Jahr steht dann unter anderem Deutschland auf dem Programm. Firmengründer William Li hat in einem ausführlichen Interview mit Spiegel.de über die Expansionspläne gesprochen.
NIO wird oft als das chinesische Tesla bezeichnet, war aber nicht die Inspiration von Li. Er lobte in dem Interview zwar, dass der US-Wettbewerber und dessen Chef Elon Musk „herausragende Innovationen“ hervorgebracht hätten, zur Gründung von NIO im Jahr 2014 sei Tesla aber noch klein und wenig erfolgreich gewesen. Li hatte 2000 als damals 25-Jähriger einen Internet-Marktplatz für Pkw gegründet. Die Idee für einen Elektroautobauer sei durch die Smogprobleme seines Heimatlandes gereift, die Geburt seines Sohnes habe ihn dann im selben Jahr zur Gründung von NIO veranlasst.
Trotz des im Vergleich zu großen Autoherstellern noch niedrigen Absatzes von rund 44.000 E-Autos im letzten Jahr ist NIO an der Börse derzeit 60 Milliarden Dollar wert – mehr als etwa BMW. Und das, obwohl das Startup im letzten Jahr fast pleite ging und von der chinesischen Stadt Hefei und der Provinz Anhui gerettet werden musste. Dabei habe es sich um eine reine Finanzbeteiligung gehandelt, unterstrich Li. Auf die Frage, warum das junge Unternehmen am Aktienmarkt so hoch wie etablierte Marken gehandelt werde, sagte er: „Wir stehen noch ganz am Anfang. Aber wir nähern uns an.“
Das Geschäftsmodell sei „stabil“, betonte Li. Außerdem werde das Unternehmen schneller. Vom ersten Auto bis Nummer 50.000 habe man noch 26 Monate gebraucht, für die nächsten 50.000 nur noch 9 Monate. Trotz der hohen Investitionen in die Expansion gebe es das Potenzial, bald Geld zu verdienen. Der durchschnittliche Verkaufspreis der angebotenen Fahrzeuge habe zuletzt bei 65.000 US-Dollar (ca. 53.900 Euro) gelegen, die Produktmarge bei mehr als 21 Prozent.
Mit Blick auf den Konkurrenzkampf zwischen Neueinsteigern wie NIO und der alten Automobilindustrie mit Konzernen wie Daimler oder VW verwies Li auf den Wettbewerb zwischen Walmart und Amazon, der vor über 26 Jahren begann. Der enorm erfolgreiche US-Handelsriese sei plötzlich durch einen E-Commerce-Anbieter mit IT-Kompetenz herausgefordert worden. Heute habe Amazon längst die besseren Zukunftsaussichten. Die komplette Unternehmenskultur sei auf das Internet ausgerichtet und viele der Beschäftigten Software-Talente. Sie verstünden die Kunden besser als andere, weil sie deren Bedürfnisse digital analysieren und Trends eher erkennen. Walmart dagegen müsse immer auf sein bestehendes Filialgeschäft Rücksicht nehmen.
Die traditionellen Autokonzerne haben ähnlich wie Walmart ein erfolgreiches Bestandsgeschäft mit herkömmlichen Fahrzeugen. „Noch können sie die Vorzüge dieses Altgeschäfts genießen. Wenn sie es aber verpassen, die Technologie und ihre Firmenkultur grundlegend zu wandeln, werden sie von neuen Wettbewerbern überholt“, glaubt Li. Von den anderen in den Markt drängenden Startups wolle sich NIO vor allem durch „smarte Technologie“ unterscheiden. So habe man ein eigenes Betriebssystem mit „Over-the-Air“-Upgrades über das Netz, ein digitales Cockpit und den Fahrassistent Nomi mit künstlicher Intelligenz. Zudem mache man große Fortschritte beim autonomen Fahren.
Moderne Produkte & Service im Fokus
„Die Verknüpfung von Hard- und Software ist unsere Kernexpertise“, so Li. Zu den weiteren Stärken gehöre das in China aufgebaute Netz von Batteriewechselstationen, über das Elektroautos in nur drei Minuten ein volles Akkupaket erhalten können. Das flankierend aufgebaute NIO-Ladenetz stehe auch Nutzern anderer Marken offen. Besonders mache NIO auch seine Community mit doppelt so vielen Abonnenten wie NIO-Besitzern. Hinzu kämen in China Häuser, wo die Nutzer sich treffen können, jährlich gebe es einen NIO-Day, man biete Reisen an und habe eine eigene Lifestyle-Marke. Es gehe längst nicht mehr nur um das Auto.
Die Expansion in andere Länder war nach den Worten von Li von Beginn an das Ziel. „Wir haben uns von Anfang an als globale Marke gesehen. Wir betreiben seit 2015 unser Designcenter in München, in Oxford sitzt ein Performance-Team, in San José im Silicon Valley haben wir unser Softwareteam“, erklärte der NIO-Chef. Man wolle Innovationen wie das Batteriewechselsystem und die Community nun auch in anderen Ländern einführen. „Warum sollte das dort nicht funktionieren?“
NIO sei eine Premiummarke und 85 Prozent der Nachfrage für solche Autos komme aus den USA, Europa und China. Um eine führende Rolle in diesem Segment zu spielen, müsse man zwangsläufig expandieren, sagte Li. Ihm und seinem Team sei bewusst, dass es kulturelle Hürden zu überwinden gilt, sie hätten aber das nötige Selbstvertrauen und seien geduldig. „Wir haben uns in China durchgesetzt. Deshalb glauben wir, dass wir auch im Ausland erfolgreich sein können.“
Die Kunden im ersten europäischen Markt Norwegen wird NIO zunächst exklusiv über das Internet bedienen. Angeboten werden das große SUV ES8 und die neue Limousine ET7. Deutschland soll 2022 folgen. „Wir hoffen, dass wir hier schon nächstes Jahr einige unserer Autos und Dienste anbieten können“, so Li. Welche Modelle hierzulande verkauft werden, bleibt abzuwarten. Neben ES8 und ET7 hat NIO derzeit auch das SUV ES6 und den SUV-Crossover EC6 im Programm.
Jörg Hielscher meint
Der Automarkt funktioniert anders als die Märkte bei billigen Konsumgütern. Erst muss man über Jahre Vertrauen aufbauen und sich eine gewisse Reputation erwerben, dann kann man höhere Preise verlangen. Die Chinesen versuchen die lästige erste Phase zu überspringen und wollen gleich Premiumpreise kassieren. Das hat bisher schon nicht funktioniert und das wird auch Nio nicht gelingen.
CaptainPicard meint
Chinesische Hersteller werden für die heimischen Hersteller dann gefährlich wenn sie ihre Billigautos nach Europa bringen. Der Versuch sich als chinesisches Tesla zu positionieren (und ähnliche Preise zu verlangen) wird nicht funktionieren.
Carsten Mühe meint
Für Billig Autos gibt es in Deutschland erst recht keinen Markt, siehe den Misserfolg des Suda.
Eugen P. meint
Den Markt bedient Dacia schon, in Teilen auch Fiat und Mitsubishi, Lada hat dann auch niemand gekauft, Borgward als China-Reboot ist auch gescheitert mit einem ähnlichen Vertriebsmodell wie Aiways.
Die Startups sind so oder so weitgehend chancenlos, in Form von Volvo mischen die Chinesen schon mit, MG läuft auch nicht so schlecht, aber dahinter stehen etablierte chinesische Volumenhersteller.
AK swiss meint
Schade, dass NIO einsam auf weiter Flur für die Batterieschnittstelle kämpfen muss. Gute Idee, aber alleine keine Chance. Es wird wohl beim Kabel bleiben.
M. meint
Zu 90% der Zeit braucht man keine Wechselstation, sondern nur eine Steckdose.
In gewissen Bereichen mag das ein Vorteil sein, aber über alle Segmente hinweg? Sicher nicht.
Vielleicht ist das ein Kaufargument für die Leute, die keinen Ladeplatz haben. Für mich nicht.
andi_nün meint
Beim ET7 innen extrem von Tesla kopiert und etwas hochwertiger gemacht. ES8 ist einfach keine Schönheit.
Bin auf jeden Fall gespannt, wie der Start in Norwegen funktioniert. Im höheren Segment verkaufen sich dort Taycan, EQC & ETron ziemlich gut.
Daniel S meint
Tolle E-Autos. Bin gespannt sie mal in natura zu sehen.
Peter W meint
Der Vergleich mit Walmart und Amazon leuchtet ein. Mal was Anderes als Nokia und Kodak.
Der Spielraum für unsere Hersteller wird immer enger, denn Spaltmaße und ein gutes Immage mit Fan-Gemeinde alleine werden bald nicht mehr ausreichen.
ID.alist meint
XPENG zeigt, dass es ein steiniger Weg ist, selbst im „E-Auto-affinen“ Norwegen.
Mich interessiert dieses ganze drumherum überhaupt nicht, und die Autos finde ich auch nicht besonders ansprechend.
ShullBit meint
Nein, der Vergleich mit Amazon leuchtet nicht ein. Es ist der Versuch, NIO zu überhöhen. Zalando wird quasi zu Amazon aufgeblasen. Wenn dann ist Tesla das Amazon des Automobilsektors.
Aus Sicht der deutschen Autoindustrie ist die Entwicklung bei den chinesischen Herstellern gerade ermutigend. Jahrzehntelang haben die Chinesen versucht, mit Brilliance und anderen Marken auch die westlichen Automärkte zu erobern (mit Verbrennern). Sie sind jedes Mal desaströs gescheitert. Mit dem Wechsel zur Elektromobilität sollte nun endlich gelingen, was man bei Verbrennern nie geschafft hat. Die westlichen Märkte sollten erobert werden. Das schien bedrohlich. NIO, Byton, Xpeng, Aiways, MG, Lynk, Zeekr BYD, usw. usf.
Schwenk nach China. Abgesehen vom Ultrabillig-Kleinstauto Wuling Mini EV für 3.500 EUR sind Tesla Model 3 und Model Y die meisterverkauften BEV in China. Und zwar mit Abstand. Die chinesischen Anbieter schaffen es nicht mal, sich im eigenen Heimatmarkt durchzusetzen.
Schwenk nach Deutschland. Aiways hatte hier einen fetten Markteintritt angekündigt. Es wurde der hasenfüßigste Markteintritt überhaupt. Kein eigenes Händlernetz. Kein eigenes Servicenetz. Statt wie angekündigt den U5 ausschließlich per Leasing anzubieten (also selbst die Risiken zu tragen) sucht man doch lieber Käufer. Die deutsche Byton-Tochter ist schon in Insolvenz usw. Lynk legt auch nur einen hasenfüßigen Markteintritt hin. Jeder der sich abseits von Leasing aktuell auf solche chinesischen Marken einlässt, geht aus meiner Sicht massive Risiken ein. Autos haben mittlerweile eine durchschnittliche Lebensdauer von 20 Jahren. Es ist aktuell aber höchst unsicher, welcher chinesische Anbieter hier in 5 oder 10 Jahren noch aktiv sind. Es droht eine sehr schwierige Ersatzteilversorgung und vor allem fehlender Softwaresupport.
Wie gesagt: Für die deutsche Automobilindustrie sind das im Moment ermutigende Zeichen. Das ist freilich nur ein Zwischenstand.
Peter W meint
Ich denke da immer an die Japaner, die man vor 30, 35 Jahren belächelt hat. Auch die Chinesen werden den Weltmarkt erobern, oder eben einen großen Marktanteil gewinnen. Wenn sich die Mobilität mehr in Richtung Nutzen aber nicht Besitzen entwickelt, haben es die Nobelmarken schwer ihre Mittelklassen mit hinterherhinkender Technik zu vermarkten.
Warten wir es ab …
ShullBit meint
@PeterW
Ja, die Japaner wurden erst belächelt und dann gefürchtet. Bei den Südkoreanern war es später ähnlich. Der Unterschied ist aber: China versucht sich schon seit 10-15 Jahren an den westlichen Märkten. Mit null Erfolg.
Auch ich hatte große Befürchtungen, dass die Chinesen unsere Hersteller im Rahmen des Wechsels zur Elektromobilität platt machen, zumal Mercedes, BMW und Co. lange äußerst schlafmützig vorgingen. Und natürlich ist das, was ich beschrieben habe, auch nur ein Zwischenfazit und nicht das finale Urteil. Aber dass die Chinesen hier mal eben mit günstigen, guten Elektroautos den Markt überrollen und platt machen, ist nicht mehr wirklich zu befürchten. Wenn ich mal einen platten Spruch benutzen darf: Auch in China wachsen die Bäume nicht in den Himmel.
Möglicherweise tut sich für die Chinesen noch ein weiteres Problem auf. Software wird zukünftig der entscheidende Faktor bei Autos sein – VW-Chef Diess hat das völlig richtig erkannt. China ist der schlimmste Überwachungsstaat und der Staat regiert bei Bedarf in jedes Unternehmen hinein. Möglicherweise bekommen chinesische Autos deshalb ein digitales Imageproblem.
Bernhard meint
Das mit der hinterherhinkenden Technik trifft es ziemlich genau. Alle Produkte aus China haben im Moment ein Problem. Der im Verhältnis zu den WLTP-Angaben viel zu hohe Verbrauch und die relativ bescheidenen Ladegeschwindigkeiten. Siehe Aiways und Polestar 2, die schon da sind. Dafür ist ein U5 nicht preiswert genug gegenüber Eniaq oder ID.4 und der Polestar 2 viel zu teuer. Und die paar Vorstellungen von NIO über Youtuber waren diesbezüglich auch ernüchternd.
Eugen P. meint
Die Chinesen werden hohe Marktanteile gewinnen, über den Preis, aber nicht in Westeuropa und den USA. Ich könnte mir gut vorstellen, dass China irgendwann den afrikanischen Markt dominiert und diesen Markt überhaupt erst aufbaut, durch seine Art der „Entwicklungshilfe“.
StugiLife meint
Die Japaner waren in den 80ern und 90ern hierzulande richtig stark, dann begann ihr Stern zu sinken…, bis hin zur Bedeutungslosigkeit. Alleine Toyota hält sich wacker mit immerhin noch akzeptablen 3% Marktanteil.
Torsten Ziele meint
@StugiLife:
Na ja, etwa Mazda und Nissan würde ich auf dem deutschen Markt ebenfalls als weiterhin erfolgreich und sichtbar bezeichnen.